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Titel
Agrarische Religiosität. Landbevölkerung und traditioneller Katholizismus in der voralpinen Schweiz 1945− 1960


Autor(en)
Hersche, Peter
Erschienen
Baden 2013: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Wolfgang Schmid, Geschichtliche Landeskunde, Univ. Trier

Hersches Buch über den Strukturwandel in den beiden schweizerischen Kantonen Appenzell Innerrhoden und Obwalden basiert auf ca. 40 Interviews mit Personen, überwiegend Bauern, die die Nachkriegszeit als junge Erwachsene miterlebt haben; heute sind sie alle über 75 Jahre alt, allein schon aus biologischen Gründen sind solchen Formen einer «oral history» künftig Grenzen gesetzt.

Hersches Buch ist klassisch aufgebaut: Eine Einleitung legt Rechenschaft über die Quellen und Methoden ab und grenzt das Thema räumlich sowie zeitlich auf die Jahre von 1945 bis 1960 ein. Das erste Kapitel ist der geographischen Situation, Bevölkerung, Verkehr, Wirtschaft, Politik, Kirche und Schule gewidmet, das zweite der Sozialstruktur der überwiegend in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung. Untersucht werden die Organisationsform der Familie, die sozialen Verhältnisse und Beziehungen, die Einteilung des Arbeitsjahres und des Arbeitstages. Kapitel drei ist dann der bäuerlichen Mentalität gewidmet und kann aus den Interviews Erkenntnisse gewinnen, wie sie aus anderen zeitgenössischen Quellen (Verwaltungsakten, Zeitungsartikel) nicht möglich sind.
Deutlich kann Hersche eine «agrarische Ideologie» herausarbeiten, die Bauern verstanden sich als «Könige im Land» und als «tragende Säule der Gesellschaft.» Dem entsprach eine Geringschätzung der Stadtbewohner im Allgemeinen und der lohnabhängigen Industriearbeiter im Besonderen. Dies führte angesichts des Kinderreichtums, der durch den vorherrschenden katholischen Wertekanon noch gefördert wurde, zu einem Problem, weil eben nur ein Sohn den Hof übernehmen und nur wenige sich als «Bauernknechte» verdingen konnten.

Viele Erkenntnisse werden über die protestantische und die katholische Arbeitsethik gewonnen, und der Übergang vom ästhetischen zum Renditedenken in der Landwirtschaft wird herausgearbeitet: Wurden früher die schönsten Kühe prämiert, so zählte später die Milchleistung. Der durchschnittliche Bauer war kein übereifriger «Tüpflischeisser» und hatte auch keine «Sauordnung», sondern bewegte sich in der Mitte, wo es eben auch Raum für eine gewisse Muße gab, Zeit für ein Glas Wein im Wirtshaus und eben auch Zeit für religiöse Dinge. Zu einem gravierenden Einschnitt führten die Einführung der Milchzentralen, die feste Einlieferungszeiten vorschrieben: Sollte die Milch bis 08.00 Uhr abgegeben werden, musste das ganze Tagwerk früher begonnen werden. Menge und Fettgehalt spielten fortan eine wichtige Rolle. Hersche untersucht auch den Umgang mit dem Risiko: Das zunächst weitgehende Fehlen und dann das langsame Eindringen der Versicherungen, welche dann die traditionellen religiösen Vorsorgemaßnahmen wie Vieh oder Wettersegen überflüssig machte. Die Wechselwirkungen von agrarischtechnischem und religiös-mentalem Wandel sind das zentrale Thema seines Buches.

Hersche stellt seit den späten 50er Jahren eine zunehmende «Modernisierung» fest, erkennbar in Renditedenken, Zeitdisziplinierung und Rationalisierung, in Milchzentralen und landwirtschaftlichen Schulen (auch für Mädchen) sowie die zunehmende Mechanisierung durch Motormäher, Heugebläse und Melkmaschinen. Jetzt konnte man zahlreiche Arbeitskräfte einsparen, die in den Hochkonjunkturzeiten (in Deutschland: Wirtschaftswunder) in die Städte zogen. Hersches Untersuchungen sind hier besonders interessant, weil es in der Schweiz weder eine NS-Agrarpolitik mit einem Reichsnährstand und einem Blut-und-Boden-Mythos gegeben hat noch eine europäische Agrarpolitik.

In Kapitel vier, das die Geistlichkeit als Repräsentantin der Religion behandelt, stellt Hersche noch außerordentlich viele barocke Elemente fest. Sie bilden eine spezifische Form agrarischer Religiosität und verschwanden dann gemeinsam mit der traditionellen Landwirtschaft. Anschaulich stellt Hersche den Wandel des Klerus vom Barock über die Aufklärung ins 19. Jahrhundert dar, wobei er einen Prozess der Disziplinierung und Hierarchisierung herausarbeitet. Dieser mündete im Untersuchungszeitraum in eine ambivalente Haltung von Hochachtung vor der Position des Geistlichen und Kritik an der «fortschrittsfeindlichen Einstellung» des Klerus. Die Prügelstrafe in der Schule blieb den Interviewpartnern ebenso ins Gedächtnis gebrannt wie das öffentliche Anprangern, das «Abkanzeln» der Sünden der Erwachsenen in der Kirche. Konfliktfelder waren vor allem die Mischehen, dann unpassende Frisuren und «schamlose Kleidung» (Nylonstrümpfe), das Sonntagsheuen und die Tanzveranstaltungen.

Kapitel fünf ist der individuellen Frömmigkeit gewidmet, den täglichen Gebeten bei Protestanten und Katholiken, der Frömmigkeit unterwegs, dem Beten des Rosenkranzes auf dem Weg zur Kirche, zum Markt oder zur Alm sowie den zahlreichen Kapellen und Wegestöcke mit ihrem Blumenschmuck. Nach der kirchlichen und der individuellen kommt in Kapitel sechs die soziale Frömmigkeit zur Sprache, die Bruderschaften und Vereine, die beliebten Prozessionen, die Andachten und der Rosenkranz, die Heiligenverehrung und insbesondere die religiösen Handlungen rund um die bäuerliche Tätigkeit.

Kapitel sieben befasst sich mit dem Sonntag, bei dem sich die Frühmessen und die deutlich kürzeren Messen der Kapuziner steigender Beliebtheit erfreuten. Beim Thema «Sakralprunk und -verschwendung» in Kapitel acht gerät der ausgewiesene Barockforscher ins Schwärmen. Er behandelt den Bau und die Ausstattung der Kirchen, den Prunk in der Liturgie und bei Prozessionen, vor allem an Fronleichnam. Diese Formen der Volksfrömmigkeit fielen zum Bedauern der Interviewpartner in den 60er Jahren neuen theologischen Ideen, kirchlichen Reformen, der Ablehnung des barocken Schaugepränges und dem zunehmenden Straßenverkehr zum Opfer.

Gespannt ist der Leser schließlich auf Kapitel neun «Die Moral: Theorie und Praxis.» Ein besonderer Konfliktherd waren die Themen Tanzen und Sexualität, bei denen die Meinungen diametral auseinandergingen. Die Pfarrer sprachen von der «grenzenlosen Vergnügungssucht» insbesondere der Mädchen und wollten das Tanzen an Sonn- und Feiertagen gerne verbieten. Allerdings schuf hier der Tourismus eine Einflugschneise der Unmoral, indem in den Hotels «Fremdenbälle» genehmigt werden mussten, bei denen man natürlich die Gäste nicht kontrollierte. Als besonders gefährlich galt das «Auslaufen» zu auswärtigen Veranstaltungen. «Das Tanzen ginge ja noch, wenn das verfluchte Heimgehen nicht wäre», soll ein Kapuziner gesagt haben. Das Heimgehen war dabei eigentlich nicht das Problem, eher die Einsamkeit des Weges, die fehlende Aufsicht und die aufgekratzte Stimmung nach dem Trinken und Tanzen. Zudem bestand die Gefahr, einen Protestanten kennenzulernen. In Fragen der Sexualmoral bescheinigt Hersche der Haltung der Seelsorger «skurrile Züge» mit einem «gewissen Unterhaltungswert» für den heutigen Leser und stellt fest, das «alte Moralgebäude» wäre nach der Enzyklika Humanae Vitae von 1968 nicht so schnell zusammengebrochen, wenn es denn nicht schon längst unterhöhlt gewesen wäre.

Diesen Umbruch untersucht Hersche dann anhand von fünf Beispielen: Bei der Moralität der Ehe, wo die Kirche vergeblich gegen «unsittliche Schaustellungen und Kinofilme» kämpfte. Ein weiterer Streitpunkt war die Empfängnisverhütung, doch gab es eine «nonkonforme Hebamme» und einen «liberalen Arzt». Der Kampf gegen unzüchtige Kleidung nahm skurrile Züge an, etwa bei dem Verbot der Skihosen für Mädchen, die im Winter von abgelegenen Höfen mit Skiern zur Kirche kamen. Auch Männer, die mit nacktem Oberkörper arbeiteten, und die «obszöne Propaganda» der Warenhauskataloge waren dem Klerus ein Dorn im Auge.

Das zehnte Kapitel enthält mehrere Synthesen. Zunächst einen aufschlussreichen, Kalender des «agrosozialen Jahres». Dann folgt ein Kapitel über Protestanten und Katholiken und eines über die Unterschiede zwischen Appenzell und Obwalden. Unter der Überschrift «Klerikale Zumutungen und laikaler Eigenwille» setzt sich Hersche mit der Konfessionalisierungs- und der Sozialdisziplinierungsthese auseinander. Er stellt eine «außerordentliche Resistenz» der Pfarrgenossen gegenüber dem «moralischen Rigorismus» der Geistlichen fest, aber auch erhebliche Differenzen zwischen der kirchlichen Lehre und den Wünschen der Gläubigen, die ihre «agrarischen Riten» beibehalten und ihre «Kapuzinermittel» weiter verwenden wollten. Zudem spürt er den Resten barocker Frömmigkeit «unter dem Schutt des 19. Jahrhunderts» nach, wobei ihm eine großartige Synthese der Entwicklung von Klerus und Volksfrömmigkeit gelingt. Nach Betrachtungen zum Wandel durch das Konzil von Trient kommt er zu einer abschließenden Synthese zum gleichzeitigen Wandel in der Agrarwirtschaft und in der agrarischen Frömmigkeit, wobei auch die Rolle von Auto und Fernsehen herausgestellt wird, ein Prozess, den auch seine Interviewpartner als «Verlusterfahrung» beschreiben.

Zitierweise:
Wolfgang Schmid: Rezension zu: Peter Hersche, Agrarische Religiosität. Landbevölkerung und traditioneller Katholizismus in der voralpinen Schweiz 1945_ 1960, Baden, Hier+Jetzt, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 456-458.